Das Heute hinterfragen

veröffentlicht am
Mercoledì
9 marzo 2022

Bühnenbild Toteis
Bühnenbild Toteis

Die Oper

Wie unheimlich kann uns die Heimat werden? Welche Mechanismen lassen Menschen extremen Ideologien folgen? Und wie viel Feind sind wir uns selbst? Es sind beißende Fragen, die der Librettist Martin Plattner und die Komponistin Manuela Kerer mit ihrer Auftragsarbeit Toteis stellen. Die Oper rückt die historische Figur Viktoria Savs in den Mittelpunkt. Diese kämpfte im Ersten Weltkrieg als Mann verkleidet an der Dolomitenfront und wurde für ihren Kriegseinsatz und ihre „vaterländische Gesinnung“ noch viele Jahre danach gerühmt. Toteis führt vor Augen, wie sich selbstbetrügerischer Nationalismus und Hass im 20. Jahrhundert breit machten und schlägt dabei immer wieder Brücken ins Heute.

Manuela Kerer und Martin Plattner
Manuela Kerer und Martin Plattner

Manuela Kerer und Martin Plattner

Das Interview

Toteis handelt vom Leben der Viktoria Savs. Zu einfach erscheint es, sie heute für ihre Haltung zu verurteilen. Wie geht man an so einen schwierigen wie sensiblen Inhalt heran? Und kann bzw. soll man die Biografie der Savs überhaupt werten?

MARTIN PLATTNER: Mit Respekt, aber ohne Hemmungen. Angst hatte ich vor dem Stoff jedenfalls keine, auch wenn viele „Schrecken“ in ihm stecken bzw. liegen. Im Libretto versuche ich die Biografie der Viktoria Savs nicht zu werten, sondern Fragen aufzuwerfen, Bruchlinien aufzuzeigen und das größte „Gespenst“ von allen – ein „Ich“ mit seinen Abgründen– auszuloten.

MANUELA KERER: Man kann Savs nicht einfach in eine Schublade stecken, und das macht sie interessant. Allerdings kann ich auch sagen, dass sie mir extrem unsympathisch ist, ja eigentlich zuwider. Dennoch ringe ich mit der Frage, was ich gemacht hätte, denn wer kann heute mit Sicherheit sagen, wie sie/er früher re- oder agiert hätte? Als Aktivist, Mitläufer oder im Widerstand? Mit Blick auf Viktoria will ich auch das Heute hinterfragen. Ich denke, dass Werten nicht nur menschlich ist, sondern dass wir werten müssen. Als Komponistin möchte ich meine Wertung aber nicht aufdrücken, sondern das Publikum selbst entscheiden lassen.

Martin Plattner, Sie wollen mit den historischen Figuren in Ihren Stücken wachrütteln und verpacken darin viele Botschaften für unsere Zeit. Welche Kernbotschaft steckt in Toteis?

MARTIN PLATTNER: Dass wir uns auch im 21. Jahrhundert aktiv und produktiv mit den Krisen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen müssen, da sie viele unserer gegenwärtigen Krisen (Nationalismus, Fanatismus. Spaltungen…) bedingen. Und: dass sich Menschen zwar rasant in Ideen verlieren können, aber sehr schwer (oder gar nicht) wieder aus ihnen herausfinden.

Manuela Kerer, Sie sagen, die Biografie der Viktoria Savs löse unterschiedliche Gefühle in Ihnen aus, vom Mitleid bis zum Hass. Wie transportieren Sie diese in die Musik?

MANUELA KERER : Das kann ich mit Worten schwer beschreiben. Entscheidend ist der Zusammenklang von Stimmen, Atem, Kratzen und der vielfältigen Geräusche von Streichern, Schlagwerk und Zither. Es sind aber auch emotionale Linien oder subtile Anklänge an das Lied Sö a l`alt sön munt meines Urgroßvaters Jepele Frontull oder an Maikäfer flieg zu hören. In meiner Musik siegt die Hoffnung, dass Kunst generell und Musik speziell etwas bewirken können.

Der Stoff ist schwierig. Der Stoff ist sensibel. Genau richtig für zeitgenössisches Musiktheater?

MANUELA KERER: Das kann ich pauschal nicht beantworten, was ich aber sagen kann: Es ist genau der richtige Stoff für mich.

MARTIN PLATTNER: Der Stoff hat für mich etwas sehr „Geisterhaftes“, die Figur der Viktoria Savs etwas nahezu Entrücktes. Wie ein beunruhigender Traum, in dem sich die Zeiten und Figuren überlagern. Das Musiktheater, insbesondere die Oper, scheint mir daher das ideale Kommunikationsmittel.

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