Eine vielstimmige Oper als Spiegel unserer Zeit

veröffentlicht am
Lunedì
4 marzo 2024

Haydn 2023 Opera 23 24 Sito 2250x1070 Dorian Gray
Haydn 2023 Opera 23 24 Sito 1200x1200 Dorian Gray

Ein Doppelinterview mit Matteo Franceschini und Stefano Simone Pintor

Wie ist die Idee entstanden, Dorian Gray auf die Bühne zu bringen?

Matteo Franceschini – Das Bildnis des Dorian Gray hat mich schon immer fasziniert. Die Themen, die das Buch anspricht, sind so kraftvoll und zeitlos. Vor etwa zehn Jahren habe ich den Roman wieder zur Hand genommen und sofort gespürt, dass darin das Potenzial für eine Oper steckt. Im Rahmen meiner Zusammenarbeit mit der Stiftung Haydn, für die ich seit 2019 als Associated Artist fungiere, sollte gemeinsam mit der Künstlerischen Leitung ein neues Opernprojekt aus der Taufe gehoben werden. Matthias Lošek und ich dachten über verschiedenste mögliche Stoffe nach, am Ende fiel die Wahl jedoch schnell auf Dorian Gray. Anschließend wurde Stefano Pintor ins Boot geholt, zuerst als Librettist und dann auch als Regisseur. Von diesem Punkt an haben wir sehr eng zusammengearbeitet.

Stefano Simone Pintor – Unsere Zusammenarbeit mit der Stiftung Haydn begann im Jahr 2018 mit der Inszenierung einer anderen zeitgenössischen Oper: Ettore Majorana. Cronaca di infinite scomparse. Daraus entwickelte sich eine fruchtbare Symbiose, die 2022 mit Falcone. Il tempo sospeso del volo ein weiteres zeitgenössisches Opernprojekt hervorbrachte. Als nächstes folgt nun also Dorian Gray, ein Projekt, das mich und Matteo aufgrund seines immensen naturgegebenen Bildpotenzials sofort begeistert hat. Als wir uns dann näher mit dem Text auseinandersetzten, immer tiefer darin eintauchten und an seiner Adaption für die Oper arbeiteten, wurde uns klar, wie viel Aktualität in vielen Aspekten des Stoffes steckt.

Wie sind Sie beide an den Text und an den Aufbau der Oper herangegangen?

Stefano Simone Pintor – Der interessanteste, aber auch aufwändigste Teil des Projekts war die Arbeit am Aufbau der Oper. Ausgangspunkt war für mich ein Satz, den Oscar Wilde einmal in einem Brief geschrieben hat: „In Dorian Gray erkennt jeder Mensch seine eigenen Sünden. Welche Sünden Dorian Gray begangen hat, weiß niemand, doch wer sie erkennt, hat sie selbst begangen.“ Die Aktualität des Textes ergibt sich also aus der Tatsache, dass wir Leser von heute ihn in die Gegenwart holen und mit unseren Bildern, unseren geheimsten Wünschen und unseren Erfahrungen ausfüllen. So sind wir auf die Idee gekommen, dass Dorian Gray in Wirklichkeit das Bildnis von allen anderen sein könnte. Nicht zufällig lässt Wilde Harry Wotton sagen, dass Dorians Leben das eigentliche Meisterwerk sei, und nicht das von Basil Hallward gemalte Porträt. Wir haben beschlossen, die Oper in sechs Kapitel zu unterteilen, so viele, wie es Nebencharaktere gibt. Und über allem steht Dorian Gray als eine Art unantastbare, erhabene Figur. Das eigentliche Schreiben des Textes, die Wahl der richtigen Worte, war dann nur noch der Feinschliff.

Matteo Franceschini – Ganz genau. Diese Vielstimmigkeit zieht sich quer durch die gesamte Oper und spiegelt auch den Zusammenschluss der künstlerischen Ideen zwischen Stefano und mir wider. Ein Großteil der Arbeit steckt also, wie gesagt, im Thema selbst. Das ist der Ausgangspunkt für alles Weitere. Der Fokus liegt auf den sieben Charakteren – sieben wie in den sieben Todsünden. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt.

Matteo Franceschini, wie sind Sie an den Orchester- und Gesangspart herangegangen?

Wenn ich eine Oper komponiere, muss ich immer mit den Stimmen anfangen. Für mich ist die menschliche Stimme das Bühneninstrument par excellence. Kaum befindet sich auf einer Bühne eine Stimme, die spricht, singt oder auch nur flüstert, entsteht Theater. Im Fall von Dorian Gray wollte ich die Stimmen ins Extreme führen, indem ich den Stimmumfang erweitere und nach neuen Klängen suche. Bestimmend war für mich dabei die Persönlichkeit der Charaktere: Gemeinsam mit Stefano haben wir für jede einzelne Figur beschlossen, wie wir sie darstellen wollen: kraftstrotzend, radikal oder zwiegespalten. Der Orchesterklang, auch wenn er sich im Detail erst in der Endphase der Produktion konkretisiert, ist für mich untrennbar mit den Charakteren verbunden. Das Orchester ist nicht einfach nur die „Begleitmusik“, sondern steckt im Inneren jeder Figur und jeder Handlung.

Stefano Simone Pintor, was dürfen wir uns von der Regie erwarten?

Es heißt, die Kraft von Oscar Wildes Text liege darin, dass er die Sünden Dorians eben nicht beschreibt, sondern es den Leserinnen und Lesern überlässt, sie sich vorzustellen. Die Schwierigkeit aus Sicht der Regie liegt nun darin, eine Oper über etwas zu machen, das sich nur in der Vorstellung abspielt. Dazu muss man erst die geeignete Ausdrucksform finden, eine Bühnensprache, die ja ohne ein visuelles Element nicht auskommt. So kam ich auf die Idee, mit Illusion und Andeutung zu spielen. Die gesamte Handlung ist in einem großen Rahmen gefangen, sodass der Eindruck entsteht, als wäre alles, was wir sehen, nichts anderes als eine riesige Leinwand, die sich ständig wandelt, oder ein Spiegel, der uns vorgehalten wird. Die Personen und die Orte der Handlung tauchen abwechselnd vor den Augen des Publikums auf und verschwinden wieder. Was wir auf der Bühne sehen, wird so zu einem lebenden Gemälde und bildet viele Situationen ab, die uns auch in unserem Alltag begegnen. Die Rahmen überschneiden sich, so wie sich Zeit und Raum überschneiden. Dieser Aspekt hat nicht nur mit der Suche nach einer besonderen Bühnenästhetik zu tun, sondern soll auch das Konzept der Vielschichtigkeit verdeutlichen, die Verstrickung von Geschichten, Lebenslinien und handelnden Personen.

Was hat Sie beide bei der Arbeit für dieses Projekt angetrieben?

Stefano Simone Pintor – In der Vorbereitungsphase waren natürlich die Briefe Oscar Wildes und seine Schrift De profundis prägend, aber auch Texte, die Das Bildnis des Dorian Gray beeinflusst haben, wie etwa der Roman Gegen den Strich von Joris-Karl Huysmans, der Stoff der Faust-Sage, der sagenumwobene Pakt mit dem Teufel oder die Beschäftigung mit dem „dunklen Doppelgänger“, die zu Wildes Zeit auch die Psychologie umtrieb. Ein wichtiger Input kam außerdem von Umberto Galimberti: I vizi capitali e i nuovi vizi (Todsünden und neue Sünden). Nichts hat mich jedoch mehr geprägt als der Blick in die Medien von heute: So finden sich in dieser Oper einige sehr schwierige Themen wieder, zum Beispiel Gewalt oder die Unfähigkeit, eine gescheiterte Liebe zu akzeptieren, Themen, die in der Boulevardpresse leider allgegenwärtig waren, während wir an diesem Projekt arbeiteten und daher unweigerlich darin eingeflossen sind.

Matteo Franceschini – Vielleicht wäre es interessant, die Frage umzudrehen. Ich glaube, dass jedes Projekt, auf das wir uns einlassen, fest mit unserer Lebenssituation verknüpft ist: Dabei kann es sich um wichtige, tiefgründige Fragen handeln, auf die wir manchmal keine Antwort wissen, oder um ganz einfache Erfahrungen, die wir im Leben gemacht haben, die aber dennoch bedeutsam und prägend sind. So glaube ich, dass unser Lebensalltag und unsere Wahrnehmung desselben uns zu Dorian Gray geführt haben. Was mich fasziniert, ist nicht nur die Schönheit von Wildes Roman oder die viktorianische Zeit, die mir persönlich besonders am Herzen liegt, sondern die Tatsache, dass der Stoff außergewöhnlich tiefgründig und höchst aktuell ist.

Dorian Gray sollte man keinesfalls verpassen, weil…

Stefano Simone Pintor – In allererster Linie ist ein Theaterbesuch heutzutage ein Akt des kulturellen Widerstandes: Ein Mensch beschließt, seine Zeit einer Sache zu widmen, die niemals einfach nur Unterhaltung ist, sondern immer auch ein Ergründen der Welt und unseres Lebens darin. Ein Stoff wie dieser, der sich viele unserer Zwänge und Tragödien zum Thema macht, ist eine Chance, tief in unser Inneres zu blicken. Wir halten inne und machen uns Gedanken. Das ist meiner Meinung nach der Sinn eines Theaterbesuchs: Für ein Thema offen zu sein, das uns vielleicht nicht alle Fragen beantwortet, uns aber neue Wege aufzeigt.

Matteo Franceschini – Theater befeuert unsere Neugier, sich mit anderen Realitäten auseinanderzusetzen, sich auf neue Klänge, Techniken und Gedanken einzulassen. Auf diese Weise bleibt Kreativität nicht nur Intuition, sondern verschmilzt zu einer Gesamtheit der Wirklichkeit, die uns umgibt, der Dinge, Menschen und Gefühle, die unsere Wahrnehmung prägen.

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