Chaplins Flaschenpost

veröffentlicht am
Giovedì
21 ottobre 2021

Modern Times
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Zur Rezeption von Modern Times

Die Premiere von Modern Times fand am 5. Februar 1936 im Rivoli Theatre in New York statt. Während der ersten Woche spielte der Film 63.790 Dollar ein, damals ein hübsches Sümmchen, doch es war ein Strohfeuer. Modern Times kostete die Produzenten fünfhunderttausend Dollar und stieß in den USA hauptsächlich auf Ablehnung, kämpfte man
doch damals gegen die große Wirtschaftskrise an, während der Film in Nazi-Deutschland als “zersetzendes” und kommunistisches Machwerk verunglimpft wurde. In Frankreich und England lief es etwas besser, während Benito Mussolini in Italien sein Nulla osta an die Bedingung knüpfte, eine Szene müsse gestrichen werden. Diese Chaplinsche Satire konnte nur auf eine geteilte Aufnahme stoßen, war doch darin die existentialistische, melancholisch verhaltene Zivilisationskritik an den prekären Arbeitsverhältnissen und der Entfremdung der Arbeiter am Fließband einer Ford-Fabrik nicht zu übersehen (tief in das kollektive Gedächtnis hat sich die Szene eingeprägt, in welcher der mittlerweile zur Maschine verkümmerte Protagonist immer weiter Schrauben dreht und gar nicht bemerkt, dass er dies auch am Kleid der Sekretärin des Direktors zu tun versucht: ein unsterblicher Einfall). Als ob er die verbreitete ablehnende Haltung erahnt hätte, erklärte Chaplin, sein Protagonist sei der Mensch schlechthin. Er habe ihm niemals einen Namen gegeben – es sei der Mensch an sich, jeder Mensch. Er sollte recht behalten – Modern Times gehört seit Jahrzehnten zum eisernen Bestand der wenigen von einem wirklichen Millionenpublikum in der ganzen Welt gesehenen Filme. Seine Aktualität ist unbestreitbar, selbst in amüsanten und gewissermaßen naiven Szenen, die dem Zuschauer entwürdigende Arbeitsbedingungen vor Augen führen, welche aber auch heute nicht überwunden sind, auch nicht in einem Land wie Italien.

Gleicht der Arbeitsalltag der Biker, der Essensauslieferer etwa nicht dem erbarmungslosen Fließband von damals?

Freigeister in einer Welt von Automaten

Gibt es heute etwa keine Arbeitssklaven, ausländische und italienische, die jeden Tag für wenige Euro, komplett austauschbar und daher ungeschützt der Willkür der Vorgesetzten ausgeliefert, in der glühenden Sonne genau jene Tomaten ernten, die später bei uns auf den Tisch kommen?
In Modern Times nimmt Chaplin Abschied von Charlot, dem Vagabunden. Das Paar, das er – auch im wirklichen Leben – zusammen mit Paulette Goddard (Gamine) bildete und das in der Schlussszene einer unbestimmten Zukunft entgegenwandert, ist ein Bild, das einen nicht unbeeindruckt läßt. Es ist jedoch nicht unbedingt versöhnlich. Im Gegenteil stellt dieses Schlussbild auch diverse Fragen, doch gleichzeitig gibt es Anlass zur Hoffnung. Der Vagabund und das Mädchen “sind die einzigen beiden Freigeister in einer Welt von Automaten”, kommentierte Chaplin. „Sie sind wirklich lebendig. Beiden eignet der ewige Geist der Jugend. Sie sind geistig frei, während der Rest der Welt unter seinen Verpflichtungen ächzt. Es gibt keinerlei romantische Verstrickung im Verhältnis dieser beiden kindgleichen, naiven und unschuldigen Spielgefährten”.

Darauf folgt mit dem Großen Diktator (1940) eine Welt am Abgrund, die bereits in den zweiten Weltkrieg gerissen worden ist, in Hitlers Delirium. Der in London geborene Schauspieler und Regisseur entschloss sich, auch Modern Times als Stummfilm zu drehen, mit Ausnahme einiger sporadischer gesprochener Szenen und dem in einem unverständlichen Grammelot gesungenen Liedchen Je cherche après Titine (von Léo Daniderff), obwohl der Tonfilm damals bereits die Regel war. Und er komponierte die Filmmusik in der Hauptsache selbst (später sollte er diese Eigenheit beibehalten), wobei er von Alfred Newman unterstützt wurde, der im Aufnahmestudio ein 60köpfiges Symphonieorchester dirigierte. „Chaplin“,  schreibt der Filmhistoriker Gian Piero Brunetta, „ist es gelungen, die Konfrontation verschiedener historischer Momente, Kämpfe, sozialer Proteste und die Kraft der Utopie auf die Leinwand zu bannen, gewissermaßen, als ob er späteren Generationen eine Flaschenpost zuwerfen wollte”. Eine Flaschenpost für uns alle. (PP)

 

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