LORIT. Interview mit Marius Binder

veröffentlicht am
Mercoledì
17 gennaio 2024

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Eine musikalische Erzählung vom Untergang der Tourismus-Maschinerie

Was hat Sie zur Musik von LORIT inspiriert?

Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich noch sehr jung war. Meine Mutter, bei der ich aufwuchs, zog nach Kärnten, also kehrte ich nur noch in den Ferien nach Innsbruck zurück, um meinen Vater und seine (meine zweite) Familie zu besuchen. Deshalb ist Tirol in meiner Vorstellung untrennbar mit meinem Vater verbunden. Die von ihm gegründete Firma, ein Ambulanzdienst, war meine erste Tür in die Welt des Tourismus, weil man zum Beispiel gute Geschäfte mit dem Transport verunfallter Skifahrerinnen und Skifahrer macht. Das hat mir die Augen dafür geöffnet, welch makabrer Tanz sich Jahr für Jahr auf den Skipisten Tirols wiederholt, wohin die Leute offenbar nur kommen, um sich in den Après-Ski Bars zu betrinken. Und dann sind sie überrascht, wenn sie sich plötzlich mit einem gebrochenen Arm oder Bein im nächstgelegenen Krankenhaus wiederfinden, weil sie sich senkrecht den Hang runtergestürzt haben. So gesehen war der Massentourismus und alles, was mit ihm zu tun hat, immer
ein einträgliches Geschäft für meine Familie. Doch ich erkannte auch seinen zersetzenden Einfluss auf die Tiroler Identität, der besonders deutlich in der Verschlagerung der Volksmusik zum Vorschein kommt. Es ist ein Spiel aus Stereotypen, mit denen man den Fremden das Bild des „Naturburschen“ zu verkaufen sucht, während man einzig das gnadenlose Business im Kopf hat (es gibt einen Grund, warum die Skigebiete während Corona geöffnet blieben und Super-Cluster wie Ischgl entstanden). Nicht einmal eine globale Pandemie und eine landesweite Quarantäne waren erschreckend genug, um auch nur einen Tag der Skisaison sausen zu lassen. Die ursprüngliche Idee der Oper war einfach die, diesen „schizophrenen Zustand“, wie Robert Prosser in unserem Libretto geschrieben hat, in seiner Logik auf die Spitze zu treiben.

In der Oper interagieren die Mitglieder des Orchesters, die elektronische Musik und die Percussion miteinander: Welche Art von Beziehung haben Sie zwischen diesen Elementen erschaffen?

Als Komponist ist es immer notwendig, ein Gleichgewicht zwischen starrer und freier Notation zu definieren: Beide haben ihre Stärken und Schwächen. Wenn man ein ausgefeiltes, präzises Stück schreibt, setzt man dem Interpreten Grenzen, aber man behält die Kontrolle über das Ergebnis. Bei einer geführten Improvisation emanzipiert sich der Interpret. Man lässt ihn freier agieren, lädt ihn ein, am kreativen Prozess teilzunehmen, aber man verliert die Kontrolle über das Ergebnis. In LORIT wurden die elektronischen Parts vorher aufgenommen und dienen dazu, eine Stimmung zu erzeugen: Sie sind meine Art, das Orchester und die Solistinnen und Solisten durch die zuvor definierten Improvisationsteile zu leiten. Mit anderen Worten, ich weiß, was das Publikum in einem bestimmten Moment hören wird, ohne mir groß Gedanken um mögliche menschliche Fehler machen zu müssen. Lan Sticker, der vom Jazz kommt, hat sich großartig in die Improvisation eines vorgegebenen Materials eingefunden. Seine Aufgabe war es, einen Übergang von Punkt A nach Punkt B zu schaffen und bei jeder Aufführung einen anderen Weg auszuprobieren. Deshalb wird die Oper niemals gleich klingen, denn ich sehe keinen Wert darin, die Aufführung zu etwas vorab Festgelegtem und Unveränderlichem erstarren zu lassen. Ich wünsche mir für meine Musik, dass sie sich entwickelt, dass sie lebt, indem sie unwiederholbare, einzigartige Moment erschafft. Die Komposition ist für mich ein Balanceakt zwischen minimaler und maximaler Kontrolle des Ergebnisses, und der Tanz zwischen diesen Polen ist meine Lösung für LORIT.

Welche Art von Beziehung herrscht zwischen der Musik und dem Handlungsstrang?

LORIT ist eine Art Mysterienspiel, das nicht nur den Untergang der Tourismus-Maschinerie voraussagt, sondern des gesamten Systems, in dem wir leben und das so viel von den eigenen Produkten und der eigenen Produktion verbraucht, dass es sich letzten Endes selbst auffressen wird. Die Oper zersetzt sich auf der Bühne, sie verfault, bis sie sich schließlich auflöst.