Michele Mariotti

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erfreute sich das Thema Glücksspiel in Russland großer Beliebtheit. Auch Igor Strawinsky konnte sich dieser Faszination nicht entziehen, rief es doch bei ihm Kindheitserinnerungen an deutsche Casinos hervor. Das Pokerspiel hatte es dem Komponisten besonders angetan. Da ist es kaum verwunderlich, dass er sich im Jahre 1935, als er den Auftrag erhielt, ein Ballett zu einem Thema seiner Wahl zu komponieren, für Poker entschied. Mit Jeu de cartes schuf Strawinsky ein abstraktes, geometrisches Werk, das von herausragender Musik getragen wird. Die Handlung leitet sich aus dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse ab, bei dem etwa die Herzkönigin auf den arglistigen Joker trifft. Während Strawinskys musikalisches Spiel recht abstrakt bleibt, wird Tschaikowski mit seiner Sinfonie Nr. 6., Op. 74 „Pathétique“ sehr persönlich, es heißt sogar, er habe sich damit sein eigenes Requiem geschaffen. Das lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr verifizieren, aber es scheint doch Vorsehung zu sein: Nur neun Tage nach der Uraufführung der Sinfonie, die später seine berühmteste werden sollte, stirbt der Komponist, weil er sich durch verunreinigtes Wasser mit der Cholera angesteckt hat. Wie viel Autobiografisches tatsächlich in der Pathétique steckt, ist unklar, doch der Schlüssel zu ihrer Interpretation liegt zweifellos im finalen Adagio lamentoso. Nachdem die beiden vorhergehenden Sinfonien Nr. 4 und 5 lebensbejahend, freudvoll und fast schon pompös endeten, lässt der Komponist bei der Pathétique pessimistisch jegliche Hoffnung sinken und ergibt sich dem Schicksal in einem abschließenden Diminuendo, das langsam in die Leere ausklingt: ein würdiger Schwanengesang für den großen Pjotr Iljitsch Tschaikowski.