Das in der Romantik wiederentdeckte Interesse für Volksmärchen erreichte Anfang des 20. Jahrhunderts einen neuen Höhepunkt. Michele Mariotti führt durch einen Abend, bei dem zwei herausragende Beispiele für musikalische Erzählungen aus dieser Epoche auf dem Programm stehen: Ma mère l’Oye („Mutter Gans“) ist als Sammlung vierhändiger Klavierstücke entstanden, die sich an junge Pianistinnen und Pianisten richtet. Bereits der Titel erinnert an Charles Perrault, einen französischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, dessen berühmte Märchensammlung „Contes de ma mère l’Oye“ („Erzählungen meiner Mutter Gans“) weltberühmte Geschichten wie Rotkäppchen, Aschenputtel oder den Gestiefelten Kater enthielt. Ravel wählte für seine Klaviersuite fünf Geschichten aus: Dornröschen und Der kleine Däumling aus Perraults Buch, Die Kaiserin von den Pagoden, Die Schöne und das Biest sowie Der Märchengarten aus anderen Quellen. Die erste Fassung von Mutter Gans entstand im Jahr 1910, doch bereits 1911 komponierte Ravel eine Orchesterfassung und arbeitete das Stück in ein Ballett um, als er erkannte, welches Potenzial das Thema hat. Es ist vermutlich kein Zufall, dass im selben Jahr ein weiteres Musikmärchen zum Erfolgsballett wurde: Igor Strawinskys Feuervogel. Das Auftragswerk für Sergei Djagilews berühmte Ballets Russes war das erste große Ballettwerk des Komponisten. Die zugrundeliegende Geschichte stammt aus einem russischen Märchen und handelt vom Kampf zwischen Gut und Böse, verkörpert durch den Prinzen Iwan, der gegen den bösen Zauberer Kastschej kämpft. In einem grandiosen Finale besiegelt der Prinz den Sieg über das Böse und rettet dank der Kräfte des Feuervogels die Prinzessin. Und so lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.